Der Abend in der Pechmarie war ein voller Erfolg. Und trotzdem: ich habe ganz schön gegen meine eigenen Regeln verstoßen. Wenn man es wohlwollend ausdrücken wollte, dann würde man sagen, ich habe geschummelt. Hart ausgedrückt kann man auch behaupten, ich habe beschissen. Aber der Reihe nach.
Wie immer die erste Tat am Tage: Espresso aufstelle, selbigen trinken und den Blog schreiben. Dann sammelte ich das Kleinpfand auf dem Balkon zusammen, welches von XXX übrig blieb und trug es zu Kaisers. Vom Erlös kaufte ich mir ein Baguette und einen Camenbert, was in der Süßen Erinnerung mein Frühstück bildete. Zum Milchkaffee plauderte ich mit den dort Anwesenden, vor allem mit Susanne, die den Käsegeruch tapfer ertrug.
Im Briefkasten steckte ein kleines Päckchen von meinen langjährigen Freund Patrick, der seit Jahren in Berlin lebt. Die Form ließ auf Singles vermuten und tatsächlich waren 6 unterschiedlichste Platten und eine wunderbare Postkarte der B 52’s mit einigen herzlichen Worten drinn. Ich freute mich wie an Weihnachten!
Um 15 Uhr traf ich Jens, mit dem ich ein Projekt besprach, was ich endlich vollenden muss. Wir machten aus, dass ich zuerst die Tour beende, um mich dann endlich um die Vollendung einer Homepage zu kümmern. Ich bin sehr froh, dass Jens Verständnis hat.
Und dann war schon wieder Zeit, um Mammut zu packen und durch die Stadt zu radeln. Der neue Gepäckträger ist zwar stabil, aber zu klein und im falschen Winkel. Wenn ich beide Canton-Boxen hinten drauf schnalle, bilden sie einen schrägen Turm, der mir im Rücken hängt und mich vom Sattel drängt. Also versuchte ich, einen der beiden Boxen ganz vorne auf Mammut zu platzieren, was optisch wie ein Rammbock wirkte, aber den Schwerpunkt niedrig hält, was beim zu transportierenden Gewicht extrem wichtig ist.
Die Fahrt zur Pechmarie führt einem quer durch Düsseldorf. Ich hatte schon Befürchtungen, durch die längere Packzeit zu spät zu kommen, doch Katja begrüßte mich mit den Worten „Du bist ja pünktlich!“. Ich: „Echt?“. Sie: „Höchstens ein paar Minuten verspätet.“
Zuerst besprach ich den Aufbau mit Katja, dann mit Franz. Meine Vorstellung vom quadratischen Boxenaufbau konnte nicht realisiert werden, so dass ich die Boxen mit Franz auf der Theke verteilte. Das ging recht flugs, so dass ich dann auch schnell die Listen an die schon Anwesenden verteilte.
Katja trommelte seit Tagen für diesen Abend und stimmte alle auf das Thema „Tanzen“ ein. Auch ich habe auf meiner Pinnwand darauf hingewiesen, dass jeder 1 Tanzwunsch abgeben möge. Auch vor Ort beschwor ich jeden, den ich sprechen konnte. Doch die Listen nahmen ihren eigenen Weg und auf meinen Tisch landeten leider recht viele Wünsche in Richtung Nick Cave, Kate Bush und Bob Dylan (und: Residents!). Wo es ging, sprach ich die Wünschenden darauf an und eigentlich alle zeigten mehr oder weniger Verständnis und änderten ihre Wunschlisten. Schon mal suboptimal.
Einige der Gäste scharrten erwartungsvoll mit ihren Tanzfüßen, doch der Abend war noch zu jung. Sehr viele gute Bekannte und Freunde schlugen auf: Carina und Heribert und Michael und Thorsten und Manfred und Armin und Raphael und Nele und, und, und… Ein intensiver Austausch ist mir beim Auflegen leider nicht möglich, aber wo es ging, versuchte ich einige Worte zu wechseln.
Vor mir lag ein Haufen Wünsche und immer mehr Tanzunfreudiges kam zutage, während nun in der Pechmarie das Tanzen zaghaft begann. Was tun, was tun, was tun? Ich konnte nicht die ganze Zeit durch den Laden laufen und rausbekommen, wer sich nun Neil Youngs „Heart of Gold“ wünschte und ich fasste einen Entschluss: ich überspringe die langsamen Titel, um bei Beschwerden entweder das Jukeboxgeld zurück zu erstatten oder eine Tanzalternative anzunehmen. Wohl fühlte ich mich dabei tatsächlich nicht. Verdammt, jede Entscheidung hat Nachteile: entweder die große Tanzbande auflaufen lassen oder die Untanzwilligen enttäuschen. Weisst Du was? Ich hasse Dilemmas (auch wenn ich in einer Band gleichen Namens in den 80ern mitspielte). Egal wie, ich musste jemanden enttäuschen.
Und tatsächlich begannen Diskussionen mit manchem. Warum ich denn nicht die Listen geändert hätte (weil der Aufwand für einen Abend viel zu groß gewesen wäre)? Man könnte doch auf alles tanzen (aber nicht alle können auf alles tanzen), etc. Ich verwies darauf, dass dies ein Prozess sei und ich es das nächste Mal cleverer angehen würde. Trotz allem konnte ich leider nicht jeden zufrieden stellen.
Doch ich ging tatsächlich noch einen Schritt weiter: als gegen Mitternacht alle Wünsche gespielt waren, legte ich keine Vogelstimmen, sondern nach eigenen Gusto auf. Eigentlich hätte ich alle Anwesenden auffordern müssen, nun weiter zu wünschen. Doch der Alkoholpegel war bei manchen schon recht hoch und ich wollte Diskussionen vermeiden. Franz bemerkte meinen Schwindel und rief gerade bei erfolgreichen Stücken mir immer wieder „Wahnsinn, was sich die Leute alles tolles wünschen“ zu. Es war sicherlich nett gemeint, doch ich empfand es ein wenig wie das Bohren in einer offenen Wunde.
Vor mir selbst rechtfertigte ich mich etwas hilflos mit Paracelsus: wer heilt, hat Recht. Jemand schlug vor, die Liste zukünftig in grobe Genres wie „Tanzbar, Langsam“ etc. aufzuteilen, was eine gute Idee ist. Mal schauen.
Die meisten bekamen von diesen moralischen Kampf nichts mit und ab spätestens Mitternacht wurde ausgiebig getanzt. Als Schallplattenaufleger genoß ich die Grobheit des Events: keine Übergänge, kein tightes Mixen, sondern so schnell wie möglich die nächste Single aufgeworfen und gestartet. Und trotzdem gibt es durch die Wahl der Songs Möglichkeiten der Dramaturgie. War die Stimmung bei Specials‘ „Gangsters“ schon großartig, flippten die Leute beim nachkommenden „Walls are tumbling down“ von Style Council förmlich aus.
Um 1 Uhr beschloss ich den Abend mit meinen Wunsch „Night Time“ der Nomads. Ein Drecksstück von einem 80er-Jahre Garagetrack. Hannes hat ein nettes Bild meiner eigenen Reaktion geschossen.
Anschließend Gespräche mit einigen Anwesenden. Manche gingen unerwartet tief und ich bedauere dann die meist späte Stunde, da mir jedes Mal noch der Abbau, das Packen von Mammut und die Heimfahrt bevorsteht. Thorsten half mir bei allem und um 1:45 Uhr standen wir vor der Pechmarie und quatschten in einer lockeren Runde weiter. Irgendwie wollte niemand nach Hause. Die Nacht war lau und die Stimmung hoch.
Ich verabschiedete mich bei Farit, Franz und Katja, die mir zum Abschied eine Beteiligung in die Hand drückte, was mich sehr, sehr, sehr freute. Dies war das zweite Mal während der Tour, was ich Katja erzählte, die es nicht glauben konnte.
Endlich bestiegen Thorsten und ich unsere Räder. Hannes wollte ein Abschlussfoto von mir auf Mammut machen und ich holte mit Mammut aus, um so schnell wie möglich an der Pechmarie die Anhöhe zu nehmen. Wir riefen allen ein „Tschüss!“ zu und glitten über die nächtlichen Straßen. Mammut ist ein 40-Tonner und wenn er einmal in Fahrt ist, ist er fast nicht mehr zu stoppen.
Thorsten half mir noch beim Hereintragen des Materials und verabschiedete sich dann. Ich saß noch lange aufgewühlt da.
Heute lege ich in der Kassette auf. Ich nehme mir vor, ab sofort ohne Erwartungen die menschliche Jukebox zu geben. John Cage starb vor hundert Jahren. Was geschieht, geschieht. Und ist auch gut so. Egal, ob getanzt wird, oder nicht.
die polare struktur dieser welt läßt es nicht allen recht zu machen…auch wenn die diesbezüglich messianische attitüden an den tag legst…deine ehrlichkeit graust selbst dem lieben gott…anstatt von einem geilen abend zu berichten erzählst du von deinen intrapsychischen schuld und sühne traumta..kerle, kerle..kerle
Mein härtester Kritiker schlägt wieder zu. Vielen Dank fürs Denkfutter.
konzept ist konzept und schummeln tut nur der, der ewig tanzen will. das ist kein dilemma sondern das pure leben…
… sich selbst, um des Tanzbein willen, ins Konzept zu fuschen, erinnert mich sehr an Lessings Riccaut de la Marlinière … „corriger la fortune“! 😉
Das Glück korrigieren? Du wirst mir mal den Text beizeiten erläutern.
… des „TanzbeinS“ … sorry
… ja, ja… schon ganz recht, wörtlich „Das Glück korrigieren“ … im übertragenen Sinne eben ‚Einfluss nehmen’… was Du ja offensichtlich auch getan hast…
Verstehe ich das also richtig, Du wolltest tanzen, die Pechmarie-Katja wollte tanzen, und ein Großteil der Leute, die sich etwas gewünscht hat, wollte aber nicht tanzen, sondern ihnen liebe, weniger tanzbare Lieder hören. Anstatt ihre Wünsche zu erfüllen hast Du aber lieber die Diktatur Deiner Laune herrschen lassen.
Jetzt kannst Du natürlich einwenden, dass getanzt wurde und viele einen schönen Abend in Erinnerung behalten werden (so wie ich auch), ja, das kannst Du – Integrität sieht aber anders aus.
Es war nicht der Großteil, der sich etwas anderes wünschte, sondern ein kleiner. Und ja: den Verlust der Integrität an diesen Abend bin ich mir schmerzlichst bewusst. Was ich ja mit all den Worten zu verstehen geben wollte.
… allein, dass getanzt wurde, gibt ja auch noch kein DJ-Fleisskärtchen… wir wissen ja auf ‚was‘ so alles getanzt werden kann…
Dennoch, vielleicht ist ja die Möglichkeit einer ‚Diktatur Deiner Laune‘ genau der Unterschied zwischen einer menschlichen und einer maschinellen Jukebox!?
Schmaler Grat… 😉
Oh, das Original zum Kellee Patterson-Song von Barry White ist in dem Carepaket? Nice!
… mich deuchte ja auch immer, dass Madonna sich latent bei ihrem ‚Deeper & Deeper‘ an diesem Song orientiert hat… und ja, was wurde eigentlich aus Mrs Patterson? Den Sprung in die 80er scheint sie nicht geschafft zu haben… ?
Yep, welch ein Zufall, hihi!